In welchem Jahr leben wir eigentlich?

 
von Andreas Birken

Seit Heribert Illig das Mittelalter um 297 Jahre gekürzt hat, wurde immer wieder scherzhaft die Frage gestellt, ob wir denn statt im Jahre 2004 im Jahre 1707 leben. Aber die Frage hat für jeden, der sich mit Chronologie beschäftigt, einen ernsthaften Aspekt; denn es ist der Tat jetzt schon schwierig auszurechnen, wieviel Zeit z.B. zwischen dem 1. September 1581 und dem 1. September 1583 (nach gregorianischem Kalender) verstrichen ist. Zwei volle (gregorianische) Jahre waren es jedenfalls nicht, weil zwischen dem 4. und 15. Oktober 1582 keine Zeit stattgefunden hat. Genauso schwierig ist es offenbar für die Bürgermeister von Städten, die in der Römerzeit gegründet worden sind, nachzurechnen, wie alt ihre Stadt ist. Hier liegt die Schwierigkeit darin, dass es in Rechnung nach Ären niemals ein Jahr Null gibt, sondern nur einen Zeitpunkt Null. Zwischen dem 1. Januar -1 und dem 1. Januar +1 lag nur ein Jahr nicht zwei. Die Astronomen haben das Problem so gelöst, dass sie das Jahr 1 v. Christus zum Jahr astronomisch Null gemacht haben. Damit sind aber die negativen Jahre immer noch im Spiel und von 60 v. Chr. bis 60 n. Chr. waren es nicht 100 sondern 120 Jahre.

Auch dafür haben die Astronomen eine Lösung gefunden: Durchnummerierung der Tage. Die jeweilige Nummer heißt Julianisches Datum (J.D.). Der Name bezieht sich nicht auf Julius Cäsar, sondern auf Julius Scaliger, den Vater des Astronomen Joseph Justus Scaliger, der die Nummerierung 1581 vorschlug. Ausgangspunkt ist der mittlere Mittag des 1. Januar 4713 v. Chr. Der Beginn zur Mittagszeit wurde gewählt, um im Protokoll nächtlicher Himmelsbeobachtungen keinen Datumssprung zu haben. Dieser Gesichtspunkt ist natürlich inzwischen überholt. Deshalb hat man das bei der Raumfahrt beliebte Modifzierte Julianische Datum (M.J.D.) erfunden, dessen Ausgangspunkt 0 Uhr 0 Weltzeit am 17. November 1858 = 2 400 000.5 J.D. ist. Scaligers Julianische Daten eignen sich gut zur Umrechnung von Tagesdaten beliebiger Ären untereinander und sie beginnt so früh, dass es in der für den Historiker interessanten Zeit keinen Sprung ins Minus gibt.

Für die Zeitenspringer eignet sich eine solche durchlaufend positive Zeitrechnung nicht, selbst wenn sie mit der Erschaffung Adams anfinge, denn selbst an diesem Datum rüttelt Heinsohn, und jedes Mal wenn ein Zeitenspringer ein weiteres Jahrhundert wegputzt, wären alle späteren Daten zu revidieren. In jedem Falle scheint mir aber ein Datierungssystem, das die zeitlichen Abstände zwischen Ereignissen abbildet, sehr wünschenswert. Ich gestehe, dass ich selbst durch einen so grundsoliden Artikel wie Weißgerbers Indica 1/2 [ZS 2/2004] mein Zeitgefühl verliere und nicht mehr weiß, sind wir nun vorher oder nachher.

Selbstverständlich ist es wenig sinnvoll, die letzten 1000 Jahre umzudatieren. Die Daten sind im Prinzip nicht strittig und in Millionen von Büchern abgedruckt. Die Tatsache, dass viele Menschen nicht verstanden haben, dass das 2. Millenium nicht nur 999 Jahre dauerte, wollen wir hier außer Acht lassen.

Da nun das Millenium I in Illigs Ansatz eine zentrale Rolle spielt, als ein von Kaiser Otto III. willkürlich festgesetztem Datum, von dem aus dann Hermann von Reichenau als erster eine Weltchronik verfasste, die durchgehend A.D. datiert war, bietet sich das Jahr 1000 A.D. (oder nach Wunsch n. Chr. oder auch U.Z.) als Ausgangspunkt einer Ära für die Datierung der davor liegenden Zeit an. Die Jahre vor dem Jahr 1000 wären dann auf dieses bezogen und als V.M. zu bezeichnen. wobei „vor M“ sich dann sowohl auf das Wort Millenium oder auf die römische Ziffer für 1000 beziehen kann. Das Jahr 999 A.D. wäre dann das Jahr 1 V.M., das Jahr 1 A.D. das Jahr 999 V.M und umgekehrt das astronomische Jahr -1 = 1000 V.M., wenn da nicht die Phantomzeit von 297 Jahren abzuziehen wäre. Die Zeitspanne zur Gegenwart errechnete sich als das Datum V.M. + 1000 (bzw. für das aktuelle Jahr + 1004). Unter Berücksichtigung der Phantomzeit ergibt sich dann folgende Rechnung: Nach der Phantomzeit ist V.M = 1000 – A.D., vor der Phantomzeit bis zum Jahre 1 A.D. ist V.M. = 703 – A.D.; für die Zeit vor Christi Geburt ist zum Jahresdatum der christlichen Ära 702 zu addieren, um das Jahr V.M. zu bekommen.

Zeittafel

A.D. V.M. Ereignis
983 7 Regierungsantritt Kaiser Ottos III.
987 13 Wahl Hugo Capets zum König des Westfrankenreiches
972 28 Otto II. heiratet die byzantinische Prinzessin Theophano
969 31 Die Fatimiden entreißen den ‚Abbasiden Ägypten
962 38 Kaiserkrönung Ottos I.
955 45 Sieg der Ostfranken über die Ungarn auf dem Lechfeld. Ende der seit 60 Jahren stattfindenden ungarischen Raubzüge
951 49 Otto I. König der Langobarden
936 54 Otto I. König des Ostfrankenreichs
913-959 87-41 Kaiser Konstantin VII. in Byzanz
929 71 Tod des Karolingers Karl III. d. Einfältigen
919 81 Wahl Heinrichs I. zum König des Ostfrankenreiches
622 81 traditionelles Datum der Hidschra Mohammeds bei vollständigem Abzug der Phantomzeit
916-980 84-20 Wikingerkönigreich Dublin
899-945 101-55 Einigung Englands durch die westsächsischen Könige
879-912 121-88 Vereinigung der Warägerfürstentümer durch Oleg
613 90 Perser erobern Arabien
911 89 Die Normannen gründen ein Herzogtum an der Seine
ab 596 ab 107 Christianisierung der Angelsachsen
590-604 113-99 Papst Gregor d. Gr.
584/85 119/118 Iberische Halbinsel vollständig westgotisch
ab 568 ab 135 Eroberung Italiens durch die Langobarden
565-602 138-101 Awarenreich in Dakien und Pannonien unter Kagan Bajan
vor 860 vor 140 Waräger in Kiew
562 141 Die Awaren erreichen die Donau
558-561 145-142 wiedervereinigtes Frankreich unter Chlothar I.
529 174 Benedikt von Nursia gründet das Kloster Monte Cassino
527-565 176-138 Kaiser Justinian I.
493-526 210-177 Theoderich d. Gr. König der Ostgoten
482-511 221-192 Der Merowinger Chlodwig begründet das Frankenreich
5. Jh. 3. Jh. Angelsachsen dringen in England ein. Christianisierung Irlands
476 227 Ende des weströmischen Reiches
466-484 237-219 Der Westgotenkönig Eurich begründet das tolosanische Reich, das bis zum Ebrotal reicht.
453 250 Tod des Hunnenkönigs Attila
429-534 274-169 Vandalenreich in Afrika
nach 400 nach 300 Römer räumen Britannien
395 308 Teilung des römischen Reiches in einen Ost- und einen Westteil
375 328 Die Hunnen vertreiben die Ostgoten vom Don
355-363 348-340 Kaiser Julian Apostata
325 378 Konzil von Nicäa gegen die arianische Häresie
325 378 Datum der Hidschra ohne Abzug der Phantomzeit
306-324 397-379 Kaiser Konstantin d. Gr.
284-305 419-398 Kaiser Diokletian. Beginn der Spätantike
260 443 Die Alemannen zerstören den Limes
233 470 Alemannen überschreiten den Rhein
226 477 Gründung des Sassanidenreiches
224 479 Ende des Partherreiches
117-138 586-565 Kaiser Hadrian
98-117 605-586 Kaiser Trajan
81-96 622-607 Kaiser Domitian, Bau des obergermanisch-rätischen Limes
54-68 649-635 Kaiser Nero
ab 43 ab 660 Römer erobern Britannien
30 673 Kreuzigung Jesu in Jerusalem
14 698 Tod des Kaisers Augustus
1 n. Chr. 702 Beginn der christlichen Ära
1 v. Chr. 703 Jahr -1 der Astronomen
8 710 Augustus reformiert den julianischen Kalender
12 714 August wird Pontifex Maximus
27 729 Octavian wird Augustus
42 744 Cäsar wird zum Gott erhoben
44 746 Ermordung Cäsars
46 748 Einführung des julianischen Kalenders
47 749 Cäsar erobert Pontos und Ägypten. Ende der Ptolemäer
48 750 Cäsar erstmals Diktator
58-51 760-753 Cäsar erobert Gallien
63 765 Cäsar Pontifex Maximus. Der jüdische Hasmonäarstaat wird römisch. Syrien römische Provinz
64 766 Ende der Seleukiden
ab 91 ab 793 Die italischen Bundesgenossen bekommen römisches Bürgerrecht
100 802 Geburt des Gajus Julius Caesar
129 831 römische Provinz Asia
145 847 Griechenland vollständig unter römischer Herrschaft
146 848 Zerstörung Karthagos. Römische Provinz Africa
148 850 Makedonien römische Provinz
um 239 um 941 Gründung des Partherreiches
270 972 Die letzte Griechenstadt Süditaliens wird römischer Bundesgenosse
323 1025 Tod Alexanders d. Gr.
338 1040 Gründung des Italischen Bundes unter Führung Roms

Im Prinzip könnten nun alle Daten hier „angedockt“ werden. Allerdings gibt es für die hellenistische Zeit Kürzungsvorschläge, die noch etwas diffus sind. Solche Kürzungen würden das Todesdatum Alexanders mindern. Auch besteht noch keine Einigung darüber, ob und wie stark die ersten Jahrhunderte der islamischen Geschichte zu kürzen sind. Beides müsste aber geklärt sein, bevor die Daten der alten Geschichte angeschlossen werden können. Solange diese Klärung aussteht, ist es auch nicht möglich, die an sich nachrechenbaren astronomischen Daten mit den altorientalischen Quellen in Beziehung zu setzen.

In jedem Falle macht die Tabelle sichtbar, wie zeitlich nahe die im 10. Jahrhundert entstehende mittelalterliche Staatenwelt der Spätantike war und über welch vergleichsweise langen Zeitraum sich das Reich der Römer erstreckte, dessen Denken in Recht und Philosophie des Mittelalters weiterlebte und -wirkte.

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