Das Mysterium der Zeit

 

Eine Rezension von Heribert Illig (aus Zeitensprünge 1/2012)

Monaldi, Rita / Sorti, Francesco (2011): Das Mysterium der Zeit. Die Möbius-Tetralogie. Geschichte mit zwei Gesichtern. Roman mit zwei Anhängen: Das Rätsel um Bouchard (18 S.) / Die erfundene Zeit (46 S.), Epitaph, Anmerkungen und Bibliographie; Aufbau Verlag, Berlin, 859 S. [= MS]

Es gibt ihn also, den Roman für uns und über uns. Die vordergründige Handlung ist schnell erzählt: Eine Gruppe aus drei Kastratensängern und vier Geistesgrößen will 1646 per Schiff von Italien nach Frankreich fahren. Doch es wird gekapert, und – Laune des Schicksals – die Passagiere retten sich mit zwei Piraten im Beiboot auf eine Insel, schlagen sich dort durch tausend Abenteuer, um schließlich wieder auf dem Kaperschiff zu landen und gegen Lösegeld die Weiterfahrt an den französischen Hof antreten zu können. Dabei lernt man viel über berberische Piraten, die mehrheitlich einstige italienische Christen waren, und über die dunkle Seite der engelsgleichen Kastratenstimmen, nämlich über ihre Zweit- oder auch Erstbestimmung als Lustknaben für die reiche Oberschicht, was ihnen ein Leben auf des Messers Schneide einbrachte [MS 52].

Die Story wird mit zahllosen Details – etwa eine klassische Schatzsuche, doch nicht nach Gold, sondern nach alten Manuskripten – bis hin zu derbdrastischen Liebesszenen, tolldreisten Brigantenstreichen und zu einem (vermeintlichen) Kannibalenmenü ausgekostet, als würde Satyricon von Petronius nachgespielt. Oder wir fühlen uns an den Mord im Orientexpress erinnert, weil alle Anwesenden am Tod eines Menschen mitschuldig sein könnten. „Wenn wir so weitermachen, entdecken wir sicherlich, dass jeder von uns auf irgendeine Weise in dieser Geschichte steckt“ [MS 529]. Und Satyricon ist – als verschollenes und wieder aufgetauchtes Manuskript – zugleich Thema, wenn wir zur nächsttieferen Schicht dieser Räuberpistole vorstoßen.

Die Geistesheroen unter den Schiffbrüchigen setzen alles daran, Texte um und um zu wenden und ihre Konkurrenten ins schale Licht der Mittelmäßigkeit zu setzen.

„Eine grässliche Schinderei, bei der Rücken und Augen Schaden nehmen, bei der die Philologen mit übersäuertem Magen jahrelang allnächtlich vor der Kerze sitzen und schließlich sämtlich zu Nörglern und Neidern werden, bissig und überkritisch, und wenn sie miteinander streiten (brieflich natürlich), nehmen sie kein Blatt vor den Mund: Esel, Lump, Blender, Selbstbeweihräucherer“ [MS 76].

„Ihnen allen ist bewusst, dass ihre Aufgabe nicht darin besteht, die Vergangenheit zu erklären, sondern die Gegenwart“ [MS 79].

Als historisch belegte Kampfhähne treten auf: Caspar Schoppe (Gaspar Scioppius) als unversöhnlicher Gegner des verstorbenen Joseph Justus Scaliger, dann Louis Hardouin, damals noch nicht Vater des uns gut bekannten Jesuiten Jean Hardouin, dazu mit François Guyetus ein ausgewiesener Textkenner antiker Literatur und der Bibliothekar von Kardinal Mazarin: Gabriel Naudé. Die Dialoge dieser wenig umgänglichen, aber nun auf Leben und Tod miteinander verketteten, arg versprengten Bewohner der Gelehrtenrepublik bilden das Rückgrat einer massiven Streiterei um die Hinterlassenschaften der Antike: echt oder gefälscht?

Wie diese Streithähne zusammenhalten? Dazu verwenden Monaldi & Sorti einen Kunstgriff, den ich schon einmal bei Agatha Christie genossen habe (bei The murder of Roger Ackroyd von 1926) und der hier nicht verraten wird. Sie gehen aber noch ein bisschen weiter, indem der Handlungsführende feststellen muss, dass die Realität nur gelegentlich seinen Vorgaben folgt [MS 720-728].

Es geht aber nicht nur um die Gegenwart von Schiffbrüchigen, die über ihr Schicksal hinaus philosophische Themen nicht nur wälzen, sondern um real erlebte Philosophiegeschichte: Wenn sie in einer Höhle angekettet werden, der steigenden Flut und einem Seeochsen ausgeliefert [MS 550-567], dann steht Platon mit seinem Höhlengleichnis Pate, wälzen doch die vom Ertrinken Bedrohten zunächst unbeirrt Probleme unserer Erkenntnisfähigkeit. Es geht auch um die Geistesblitze von Verstorbenen: insbesondere um die von Joseph Justus Scaliger als Vater unserer Geschichtsschreibung, um Galileo Galilei als ‘selbsternanntes’ Opfer der Inquisition und um Jean Jacques Bouchard, den geheimen Star des Romans.

Auch er ist eine historische Figur; die in Rom für einem Barberini-Kardinal arbeitete, auch als Inspektor für fromme Betrügereien (pia fraus!), aber er hat nur kurz, von 1606 bis 1641 gelebt, weil der französische Botschafter am Heiligen Stuhl, Maréchal d’Estrées, ihn in Rom überfallen ließ [MS 332] – die Autoren verdächtigen aber weniger ihn als eine Pariser Gelehrtenschule, die sich nach seinem Tod den Synkellus-Entwurf Bouchards aneignet und 1652 eine berühmte Synkellus-Ausgabe auflegt. An den Folgen der Gewalttätigkeit ist Bouchard ein halbes Jahr später gestorben. Spätestens hier überholt die Realität sogar die Fabulierkünste des Autorenehepaars, nicht aber ihre Kennerschaft: Denn sie haben die Handschriften Bouchards von mehreren Graphologen prüfen lassen, die übereinstimmend zu dem Urteil fanden, dass die anstößigen, den eigenen Ruf ruinierenden Stellen in seinen Tagebüchern (Confessiones) [MS 176, 217, 343, 761-769] von ihm selbst, aber unter Androhung von Gewalt geschrieben worden sein müssen. Bei der Entführung Aldo Moros  kam dieses heimtückische Selbst-Belasten ebenfalls zum Einsatz. Das teilen uns die Autoren im ersten Anhang mit [MS 755-772]; dort räumen sie auch ein, Bouchard ein Stück weitergedacht und ihm manches in den Mund gelegt zu haben, das eher aus ihrer eigenen Wiener Schreibstube stammt.

Während die Protagonisten im Rettungsboot zittern und mit letzter Kraft das Inselchen Gorgona nördlich von Elba erreichen, unterhalten sie sich über Bouchard, der im Dienste zweier Barberini-Kardinäle stand [MS 145]. Diesem Bouchard werden seitenweise Sätze zugeschrieben [MS 272-279, 289-305], bei denen antike Schriften als „Zeitvertreib von Spaßvögeln“ wirken [MS 306], die man aber auch als Hinweis auf die Nichtexistenz der Antike sehen könnte, etwa: „Die Gotteslästerungen der antiken Historiker verderben die Zeit“ [MS 420]. Oder seine Erkenntnis, dasss Manetho oder Berossos der Bibel widersprechen, weshalb er unbedingt herausfinden will, wie Synkellos dieses brisante Problem gelöst hat, weil er fürchtet: „Nimmt man nur einen Stein aus dem Haus heraus, stürzt es ein“ [MS 536].

Andererseits muss es wunder nehmen, wie wir unsere Ecksteine wählen. „Wir lehnen den Glauben an die Heilige Schrift ab und schenken ihn bereitwillig anderen Schriften“ [MS 558]. Daraufhin weisen die beiden Autoren nach, dass die Überlieferungslage bei Platon oder Aristoteles [MS 647-652; vgl. Illig 1995] durchaus noch schlechter ist, als bei der Bibel, so dass wir uns allemal auf schwankendem Boden bewegen.

„Wenn wir die Wahrheit offenlegen würden, nämlich dass man von keiner einzigen antiken Handschrift ernst und in gutem Glauben behaupten darf, sie sei echt, und dass der überlieferte Bestand an Texten so spärlich ist, dass er von einer Truppe habgieriger Kopisten, Epigraphikern und Papyrologen zur Gänze hätte gefälscht werden können, würden wir uns selbst und unsere Universitäten unrettbar zum Untergang verdammen“ [MS 562].

„Die gesamte Tradition der klassischen Welt gründet, so wie sie uns überliefert ist, auf Unsinn. Rom und Athen hat es so, wie wir es uns vorstellen, nie gegeben“ [MS 652].

Bislang hatten wir gedacht, dass Jean Hardouin (1646–1729) der erste war, der weite Teile der antiken (Geistes-)Welt in Frage gestellt hat. Nun wird uns erzählt, dass mit Bouchard ein junger Mann, der eigentlich den byzantinischen Weltgeschichtsschreiber Synkellos edieren wollte, aber aus unbekannten Gründen von diesem Projekt Abstand genommen hatte, endlose Zweifel geäußert habe. Aber auch der Jesuit Dionysius Petavius (Denis Pétau, 1583–1652) gehört zu Hardouins Vorläufern; er hat Zweifel an dem Konzil angemeldet, auf dem Photios I. zum Patriarchen gewählt worden ist – jener Photios, dem mittlerweile ein Abgesang geschrieben worden ist [Illig 2010].

Bei Bouchard beginnt der Zweifel einfach damit, dass er die sog. antiken Schreiber bei ihren groben Lügen, sprich Unwahrscheinlichkeiten festnagelt  und dies für fröhlichen Unfug hält. Von da an schreitet er immer weiter voran, bis schließlich die Antike fällt. Ein ganzes Rudel von byzantinischen Chronisten wird als gefälschte Personen vorgestellt [MS 655 f.] – wohl eher das Arbeitsergebnisse der beiden Autoren. Zuzutrauen wäre es ihnen, nachdem sie jeden Stein zweimal umzudrehen scheinen. Nur ein gewisses Ressentiment gegen die eigenen Landsleute scheint davon unberührt zu bleiben [etwa MS 329 oder 684], vielleicht Reflex auf frühere Kränkungen, die auch den Druck der italienischen Originalversion verhindern.

Ist Jean Hardouin damit überholt und ausrangiert? Mitnichten. Zwar ist er im Roman nur sehr mittelbar durch seinen Vater vertreten, aber die Autoren haben sich gerade um ihn äußerst bemüht. Schließlich geht es um einen selbständigen Denker, der Lehrämter in Theologie, Literatur der Klassik und Philologie inne hatte. Er gab alte Schriften heraus, insbesondere die Naturgeschichte des Plinius. Dabei kamen ihm Zweifel, inwieweit all das, was wir der Antike zuschreiben, tatsächlich alt ist. Nach immer weiteren Überprüfungen ließ er schließlich nur noch eine Handvoll Werke von Homer, Vergil, Cicero und Horaz gelten, während er Kunstwerke, andere literarische Werke und selbst Münzen als Fälschungen ansah, die von Mönchen des 13. Jh. fabriziert worden waren, um nicht zuletzt die Reinheit des ursprünglichen Christentums zu beflecken. Niemand wird sich wundern, dass er 1709 zum Widerruf gezwungen worden ist.

Monaldi & Sorti stellten verwundert fest, dass die meisten seiner Manuskripte gar nicht gedruckt sind, dass also keiner seine Kritiker „das Herzstück seines Werkes, die unpublizierten, in Paris liegenden Handschriften gelesen“ hat [MS 776]. Daraufhin begaben sie sich in die dortigen Archive, studierten das vorhandene Material und stellten es der Allgemeinheit zur Verfügung, indem sie es auf eine Website bringen ließen [attomelani]. Wer des Französischen mächtig ist und vor lateinischen Zitaten nicht zurückschreckt, kann dort Hardouins Werke in seiner originalen Handschrift lesen.

In diesem Buch wird seine Methode ausgeführt, Namen als Chiffre zu verwenden. So wie heutige Bibelforscher per Computer moderne Begriffe und Politikernamen im hebräischen Urtext der Bibel suchen, so suchte Hardouin nachzuweisen, dass hinter den Dialogen des Platons christliche Formulierungen hervortreten, wenn man nur richtig die lateinisch oder griechisch geschriebenen Worte ins Hebräische transkribiert [MS 525, 658-668, 777 ff.]. So werden aus vorchristlichen Texten krypto-christliche Texte, während sich antikes Geistesgut verflüchtigt.

Joseph Justus Scaliger (1540–1609) wird von Schoppe trotz mancher Einrede des ‘boat people’ nicht nur als Erfinder chronologischer Daten verteufelt, sondern auch wegen angemaßter Abstammung. Aus heutiger Sicht  stand die Familienwiege mit Sicherheit nicht im Veroneser Scaligerschloss, wie sein Vater Julius Caesar Scaliger behauptete. Ob Schoppe mit dem Namen Giulio Bordone (ohne Caesar) Recht hat, bleibe dahingestellt [MS 446, 576]. Zentral waren seine Versuche, eine wirkliche Chronologie aufzustellen, indem er zunächst die julianische Tageszählung kreierte: Beginnend am 1. 1. 4713 v. Chr. gab er jedem Tag eine fortlaufende Nummer, die dann eindeutig mit Ereignissen belegt werden konnte. Erst nach 7.980 Jahren beginnt die Zählung von neuem. Die Länge der Periode errechnet sich aus 4 (Schalttag) x 7 (Wochentag) x 19 (Goldene [Mond-]Zahl) x 15 (Indiktion), also aus dem mit der Indiktionszahl multiplizierten großen Osterzyklus von 532 Jahren. Wäre das Ganze eine Maya-Rechnung, würden wir im Jahr 3.268 n. Chr. nicht den Neubeginn der Tageszählung, sondern den Weltuntergang erwarten. Computer rechnen übrigens fast durchwegs mit den julianischen Zahlen, die Scaliger nicht nach Caesar, sondern nach seinem Vater benannt hat.

Scaliger war auf jeden Fall der erste, der auch mit Hilfe von astronomischen Rückrechnungen von Sonnenfinsternissen und anderen zyklischen Himmelserscheinungen die Chronologie auf sicherem Boden verankern wollte. Die unendlichen Widersprüche in den zu selten vertrauenswürdig tradierten Überlieferungen überging er, indem er nach Meinung Schoppes selbst kräftig erfunden hat [MS 478]: ein Betrüger mit dem „Wahn, alles zu datieren“ [MS 347]. Dabei scheint der Vorwurf des Betrügens schon von Bouchard gemacht worden zu sein – „denn er versucht, die Geschichte selbst zu ändern“ [MS 605]. Im Buch wird Scaliger wiederholt als „Herr der Zeit“ tituliert [MS 576, 725] Dabei waren die Liebhaber alter Schriften nicht zuletzt wegen dieser ihrer Leidenschaft gerade zerlumpte und erschöpfte, frierende und verschmutzte, vom Schicksal gebeutelte, aus ihrer Zeit geworfene Schiffbrüchige [MS 353].

Wie am Rande werden viele Ideen in die Diskussion eingebracht: Hat Mohammed gelebt [MS 130], hat die Bibliothek von Alexandria jemals existiert [MS 347], nachdem auch das Serapeion oder das Museion nicht aufzufinden sind? Ist die Insel Gorgona eher Campanellas Sonnenstaat oder Thomas Morus’ idealer Stadt Amauroto oder doch Sparta nachempfunden [MS 368, 203]? Gibt es die von Bracciolini aufgefundenen Handschriften doch noch, hat er sie etwa vererbt, sind sie auf die kleine Insel verbracht worden [MS 379]?

Gesprochen wird auch über die italienischen Handschriftenfinder, die sich im Gefolge von Angiolo Poliziano, der im Florenz von Lorenzo de’Medici lehrte und auch die Knaben liebte, über die Klöster des Kontinents hermachten. Allen voran Gianfrancesco Poggio Bracciolini, der mit zahllosen Literaturfunden „dem antiken Rom ein neues Gesicht gegeben“ hat [MS 82 ff; hier 84]. Im Gegensatz zu alten Biographien [Illig 2011, 74] geht das Autorengespann davon aus, dass er ein lukratives Schreibatelier unterhielt und Rom ein Gesicht gegeben hat, das von ihm selbst stammt [MS 675, 809].

Auf der rätselhaften Insel, die eine blühende oder auch eine verdorrte Stadt und mehr als seltsame Bewohner aufweist, kommen verlorene Teile von Petronius’ Satyricon zutage und versetzen die Buchgelehrten in Ekstase [MS 190, 399-404], handele es sich doch bei den alten Autoren um „die Tyrannen der Welt“ [MS 195]. Im Falle von Petronius ging es um „die Liebe als das, was sie ist: Verlangen nach Genuss frei von allen Verboten! [MS 404]

Ein spezielles Hobby von Monaldi & Sorti sind Fälle in der Geschichte, die einfach nicht möglich sein sollten. Als älteres Beispiel kann Papst Innozenz XI. dienen, der als Mitglied einer Sieneser Bankdynastie Wilhelm von Oranien und damit den Sieg des Protestantismus finanziert hat [Imprimatur, 716]. Diesmal ist von venezianischen Geldgebern die Rede, die nach der Seeschlacht von Lepanto ausgerechnet die Türken finanzieren [MS 257]. Oder die erhabene Universität von Padua, an der ‘man’ mit dem Atheismus liebäugelt.

„Die Universität wird von der Republik Venedig bezahlt, die viele offene Rechnungen mit der römischen Kirche hat und aufrührerische Ideen nach Kräften fördert“ [MS 328].

Galileo Galilei wird mehrfach als Betrüger hervorgehoben, der sich absichtlich verurteilen ließ, um seine Bücher verkaufen zu können [etwa MS 387], aber bei seiner Causa geht es um viel mehr. Im Dialog wird die These entwickelt und vertreten, dass nicht der Papst, sondern die Protestanten die eigentlichen Gegner Galileis waren [MS 420-432], förderte doch Urban VIII. sogar Kepler mit einer Berufung nach Tübingen, also einen ‘kopernikanischen’ Astronomen und evangelischen Theologen [MS 423]. Schoppe läuft hier zu großer Form auf:

„Ich habe nur berichtet, Galileo ist es gelungen, die Kirche von Rom zu nötigen, und das in einem äußerst heiklen Moment des Kampfes gegen die Protestanten, in dem die Katholiken beschuldigt wurden, den Buchstaben der Bibel nicht zu achten!“ [MS 430].

Und er hält Papst Urban VIII. für den besseren Wissenschaftler, weil dieser wusste: „Bestätigungen von Hypothesen durch Erfahrung mögen so zahlreich und präzise sein, wie man will, sie könnten eine Hypothese doch nie in Gewissheit verwandeln“ [MS 503]. das wird nicht nur auf S. 431 ausführt, sondern auch in größerem Zusammenhang:

„»Scaliger berücksichtigte nicht, dass man ebenso gut andere Vermutungen hätte aufstellen könne, die sich ebenso gut eigneten, die Lücken seiner Chronologie zu füllen. Eine Unaufmerksamkeit, die man einem Romanschreiber, nicht aber einem Historiker verzeihen kann! Scaliger beging also den gleichen Fehler wie Galileo, der eine Theorie für wahr hielt, nur weil sie mit experimentellen Beobachtungen übereinstimmte, der aber die Möglichkeit außer Acht ließ, dass es andere, ebenso triftige Theorien geben könnte, die nur noch nicht entdeckt waren.«

»Dann glaubt Ihr also wirklich, wie der Barberini-Papst, Galileos Gegner, dass eine Theorie nicht schon bewiesen ist, wenn sie mit mathematischen Berechnungen und mit dem, was man sieht, übereinstimmt? Ist es nicht übertrieben, sie in Zweifel zu ziehen, nur weil der Verdacht besteht, dieselben Wirkungen könnten auf anderen, noch unbekannten Wegen erzeugt werden? Wenn das wirklich so wäre, dürfte keine Theorie als richtig gelten, und die Welt wäre unerkennbar!«

»Glaubt Ihr denn, die Welt sei erkennbar?«, fragte er zurück.“ [MS 479]

Hier wäre noch der Frage nachzugehen, inwieweit nun die Kirche selbst einer heidnischen Ansicht anhing, nämlich der von Aristoteles und seines Kommentators Averroes [MS 501], die immer wieder in Mysterium aufgeworfen wird. Wir sind im Zentrum des Buches, und hier wird auch sein Titel erklärt:

„»Ohne die Bewegung der Himmelsgestirne wäre die Zeit nicht messbar. Wer die Gewissheiten über die Planetenbewegungen verändert, verändert also die Zeit und die Geschichte der Welt.« […]

»Es handelt sich nicht um Astronomie, sondern um Chronologie. Warum haben die Menschen die Bewegungen der Planeten studiert? Um die Zeit messen zu können?«

»Ja, das stimmt«, gab ich zu. »Aber die Geschichte kann man zum Beispiel auch mit einer Liste früherer Könige erforschen und rekonstruieren.«

»Gewiss. Aber wer sagt uns, was in China oder Ägypten passierte, als wir die alten Römer hatten? Wie lässt sich die Geschichte der Welt richtig aufeinander abstimmen? Nur mit den Planetenbewegungen. Wenn die Quellen berichten, das dieser oder jener Stern am Himmel stand oder Neumond war oder eine Sonnenfinsternis stattfand, und wir diese Ereignisse mit den periodischen Bewegungen der Planeten vergleichen, können wir bis zu dem Moment zurückgehen, an dem es diese oder jene Konfiguration am Himmel gab.«“ [MS 474 f.].

Ein gemeinsames Muster findet sich: „Galileo und die Philologen haben denselben Fehler begangen: beide haben bloße Vermutungen zu Gewissheiten erhoben.“ Und so kann sich der Roman selbst erklären, gibt er doch wieder, „wie die pervertierte Zeit entstand und wie sie mit all den schönen Erzählungen des Altertums gefüllt wurde“ [beides MS 751].

Anhang II setzt mit „Die erfundene Zeit“ fort [MS 773-818]. Hier finden sich die Vertreter der kritischen Chronologie friedlich vereint, obwohl Welten zwischen einem Anatolij Fomenko und etwa dem Rezensenten liegen können. Bei diesem Nahblick hat sich auch manchmal die Perspektive verschoben, etwa bei folgender Feststellung, die sich darauf bezieht, dass für den russischen Chronologen Jesus erst im 11. Jh. n. Chr. geboren ist:

„Wenn Fomenko Recht hatte, wäre die Fleischwerdung Christi gut tausend Jahres von uns weggerückt, mit dem unausweichlichen Effekt, dass  sich die Figur des Erlösers wesentlich verschwommener darstellt“ [MS 788].

Das Buch schließt mit Ausführungen über die Hilflosigkeit der Philologie gegenüber den Fälschern. Dabei haben es sich die Beiden nicht nehmen lassen, auch hier mit weitgreifender Recherche zu zeigen, wo überall Giftmischer in katholischen wie orthodoxen Klöstern am Werke waren. Sie lassen auch einen heutigen Philologen zu Wort kommen, aber seine Meinung zum Umgang mit dem ‘pia fraus’ scheint aber kein Weg zu sein, um aus dem Unheil herauszukommen. So meint Glen Bowersock von der University of Princeton:

„Für jede konsequente und überzeugende Interpretation des Römischen Reichs stellt sich klar heraus, dass die erfundene Literatur als Teil seiner Geschichte anzusehen ist. Für die Antike wäre dies keine sonderlich überraschende These gewesen“ [MS 793].

So etwas nennt man Kapitulation. Das Autoren-Duo fasst das von ihnen ausgewählte, längere Zitat ganz ähnlich zusammen: „Grob gesagt: Wir sind in keiner Weise verpflichtet, der antiken Geschichte zu glauben“ [ebd.]. Nicht mehr niedergeschrieben wird der eigentlich zwingende Schluss: Wir können aus der Geschichte nur lernen, dass wir nichts aus ihr lernen können!

Das waren jetzt lange Ausführungen zur dritten Ebene dieses Buchs, das eine enorme Fülle von Ideen einbezieht, immer wieder auf sie zurückkommt, um schließlich die Irrfahrer doch wohlbehalten ihrem Zielhafen zuzuleiten, während auf der Interpretationsebene samt Anhängen und Anmerkungen das Brecht-Wort gültig bleibt, auch wenn wir es nicht mehr von Marcel Reich-Ranicki hören: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen!“

Damit sind die Hierarchie-Ebenen dieses Buches noch nicht ausgelotet. Denn wir stünden mit dem vierten der Atto-Melani-Bände in der Mitte der Reihe. Nun hat sich aber eine Änderung ergeben. Im Untertitel ist jetzt überraschenderweise von der Möbius-Tetralogie die Rede. Hier können wir nur auf die Zukunft vertrauen. Denn nach den ersten drei Atto-Melani-Bänden, die sich alle um den Kastratensänger, Spion, Diplomat und Schriftsteller (1626–1714) ranken, geht es ab Mysterium ‘zweispurig’ weiter. Ab jetzt erhält jeder Band ein Pendant, in dem das zweite Gesicht ein und derselben Geschichte erzählt wird (zu Mysterium demnächst Verschleierung). Vielleicht spielt hier das Geheimnis des Möbius-Bandes eine Rolle. Es hat ja nur eine Seite. Schneidet man es der Länge nach durch, erhält man ein doppelt verdrilltes Band, das seine ‘Einseitigkeit’ verloren hat. Schneidet man dieses in der gleichen Weise durch, erhält man zwei ineinander hängende, verdrillte, zweiseitige Bänder – oder eben zwei Bände der Atto-Melani-Reihe, die bis lang der Zeitachse gefolgt war: Imprimatur spielt 1683, Secretum 1700 und Veritas 1711.

So entsteht eine kunstvolle Hierarchienfolge, die den Leser vielleicht über Gebühr fordert: die Handlung des Romans, die Bekenntnisse des Manns an den Marionettenschnüren der Romanakteure, die Aufklärung der Autoren über den Bezug der Akteure zur (einstigen) Realität, die Bedeutung für damalige und heutige Wahrheitssuche, insbesondere bei der Chronologie – sie bildet das „Mysterium der Zeit“ – schließlich die Einbindung in die gesamte Komposition der Atto-Melani-Reihe.

Bislang hat das Erfolgsduo Leser in 26 Sprachen gefunden. Jetzt ist der Rezensent gespannt, ob Mysterium diese Anzahl noch erhöhen wird oder ob die Leser angesichts der geballten Ladung an Chronologie, Fälscherei und Wahrheitssuche kapitulieren. Selten spielt ein Roman auf zwei derart weit voneinander getrennten Ebenen: hier der barock-überschwängliche, großzügig ausgebreitete Seeräuberroman, garniert mit ‘sodomitischen’ Episoden, dort die intensive Beschäftigung mit den Rätseln der Chronologie, der Existenz des Altertums und dem Aufklären grundlegender Widersprüche.

Zeitenspringer sehen sich hingegen selbst dabei porträtiert, wie sie ihrer Leidenschaft nachgehen und dabei manchmal die Contenance verlieren:

„Dreiste Prügeleien waren das täglich Brot dieser kränkelnden Bücherwürmer, die heute unter dem gnädigen Namen Gelehrtenrepublik zusammengefasst werden“ [MS 834].

 Literatur

attomelani = http://www.attomelani.net/index.php/english/mysterium/hardouin-manuscripts/

aufbau = http://www.aufbau-verlag.de/monaldi

Christie, Agatha (1926): The murder of Roger Ackroyd [auf Deutsch unter den drei Titeln Alibi, Der Mord an Roger Ackroyd und Roger Ackroyd und sein Mörder]

Illig, Heribert (1995): Aristoteles – fern seiner Logik; in Zeitensprünge 7 (4) 450-460

– (2009): Fälschungen aufdecken und publik machen. Historische Krimis von Monaldi & Sorti. Eine Rezension; in Zeitensprünge 21 (1) 250-255

– (2009a): Abschied von Salaì. Die fortgesetzte Fälschungsaufklärerei enttäuscht; in Zeitensprünge 21 (3) 700-702

– (2010): Logik und Ökonomie der Fälscher: Primat des Papstes · Heiraten und Kinder bei Merowingern und Karolingern · Photios I.; in Zeitensprünge 22 (3)662-685

– (2011): Zwischen den Kalenderreformen von Cäsar und Gregor XIII. liegen nur 1.330 Jahre. Kalendarisch bestätigt: die These vom erfundenen Mittelalter; in Zeitensprünge 23 (1) 065-076

Monaldi, Rita / Sorti, Francesco (2003): Imprimatur; München (12002)

– / – (2005): Secretum; Berlin (12004)

– / – (2007): Veritas; Hamburg (12006)